Innovation und Nachhaltigkeit
Wie aufkommende Technologien und der Wandel zu mehr Nachhaltigkeit die Unternehmenswelt von morgen prägen
Im Gespräch mit Commerzbank Insights verrät Matthias Lais, Gründer und Geschäftsführer des main incubator, was aufkommende Technologien wie das Quantencomputing und der zunehmende Fokus auf Nachhaltigkeit für die Zukunft des Bankensektors und der Unternehmenslandschaft als Ganzes bedeuten.
Die Pandemie hatte auf die Veränderungs- und Modernisierungsprozesse in der Finanzwelt einen beschleunigenden Effekt. Glauben Sie, dass dieser Trend von Dauer ist?
Matthias Lais: COVID-19 hat die Digitalisierung ganz klar vorangetrieben, sowohl bei Banken als auch bei Unternehmen insgesamt. Wie heißt es so schön? Not macht erfinderisch – und ein Beispiel dafür ist die rasche Umstellung auf mobiles Arbeiten. Dadurch war es der Gesellschaft überhaupt erst möglich, die Herausforderungen der Pandemie zu meistern. Das Engagement der Finanzinstitute für Innovation, insbesondere für kundenorientierte Innovation, ist jedoch nichts Neues; die Pandemie beschleunigt hier lediglich einen langfristigen Trend. Es bleibt natürlich zu hoffen, dass dieser Enthusiasmus anhält und sich die Digitalisierung der Branche weiter beschleunigt.
Ein weiterer Trend, den wir im Bankensektor beobachten, ist die kontinuierliche Erweiterung des Angebots über das traditionelle Spektrum hinaus, um Mehrwert zu schaffen. Durch enge Zusammenarbeit können Banken erkennen, was jeder einzelne Kunde für seinen Erfolg braucht, und so auch bei unternehmensspezifischen Problemen helfen, die früher außerhalb des Dienstleistungsspektrums lagen. Um das leisten zu können, suchen sie die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Start-ups und Fintechs. Der main incubator arbeitet jetzt beispielsweise mit einem Start-up zusammen, das Lösungen für das Reisekostenmanagement anbietet – ein Bereich, in dem die Unternehmensabläufe durch Innovation deutlich verschlankt werden können.
Es gibt zahlreiche technologische Mittel, mit denen solche Innovationssprünge erreicht werden können. Einige – wie die Blockchain – sind bereits bekannt und andere müssen sich erst noch durchsetzen. Als Forschungs- und Entwicklungseinheit der Commerzbank widmen wir uns vor allem den aufstrebenden, vielversprechenden Technologien wie dem Quantencomputing, um nur eine spannende und bevorstehende Innovation zu nennen.
Was macht das Quantencomputing aus? Ist in naher Zukunft mit praxisrelevanten Anwendungen auf dem Markt zu rechnen?
Matthias Lais: Das Quantencomputing sorgt derzeit für große Aufregung, und das aus gutem Grund. Es basiert auf den Erkenntnissen der Quantenphysik und liefert dadurch schnellere und erweiterte Rechenleistung. Damit lassen sich auch Rechenprobleme lösen, an denen klassische Computer noch scheitern. Big Data gewinnt in der Wirtschaft immer mehr an Bedeutung, doch ohne Quantencomputing werden sich unserer Überzeugung nach aus diesen riesigen Informationsmengen keine wertvollen Erkenntnisse gewinnen lassen. Im Finanzbereich könnte sich das Quantencomputing z. B. in der Portfoliooptimierung einsetzen lassen: Aus einem großen Pool an Anlagemöglichkeiten kann ein Vermögensverwalter anhand bestimmter Kriterien effizient und effektiv errechnen lassen, welche Vermögenswerte für ein optimales Portfolio notwendig sind.
Ein weiteres Beispiel ist die Effizienzsteigerung von bankspezifischen Rechenprozessen. Ich denke hier insbesondere an aufsichtsrechtliche Berechnungen, die derzeit manchmal Stunden oder sogar Tage dauern. Das Quantencomputing hat das Potenzial, diese Verarbeitungsdauer auf Minuten zu reduzieren. Die Zeit- und Kosteneinsparungen liegen auf der Hand.
Der main incubator hat bereits mehrere vielversprechende Prototypen im Bereich des Quantencomputings entwickelt. Wir haben z. B. kürzlich mit Fujitsu an einem Projekt gearbeitet, bei dem es um „Digital Annealing“ geht – ein Verfahren, bei dem eine von Quanten inspirierte digitale Technologie zum Einsatz kommt. Es handelt sich hierbei zwar nicht um einen vollwertigen Quantencomputer, trotzdem hat dieses Projekt gezeigt, dass die Technologie eine höhere Datenverarbeitungsgeschwindigkeit ermöglicht und komplexe Berechnungen mit hoher Präzision durchgeführt werden.
Auch wenn diese Prototypen bisher vielversprechend sind, steckt das Quantencomputing noch in den Kinderschuhen, und bis es zum Standard wird, muss noch viel investiert und geforscht werden. Wir sind jedoch angesichts des rasanten Tempos der bisherigen Entwicklung zuversichtlich.
Der main incubator ist auch in der Forschung und Entwicklung von künstlicher Intelligenz aktiv. Haben Sie in diesem Bereich in letzter Zeit Fortschritte gemacht?
Matthias Lais: Wir glauben fest an das Potenzial der künstlichen Intelligenz (KI). Der main incubator ist ein aktiver Teilnehmer am Financial Big Data Cluster (FBDC). Dieses Konsortium schafft einen sicheren Rahmen für den Datenaustausch, um bisher unverbundene Finanzdaten zu integrieren. Das FBDC bringt verschiedene Marktteilnehmer zusammen, die dann gemeinsam an der Optimierung von KI und maschinellem Lernen im Finanzsektor arbeiten. Ein konkretes Beispiel ist ein gemeinsamer Datenpool. Damit werden Compliance-Prozesse, für die oft die gleichen Daten von mehreren Banken benötigt werden, straffer, schneller und effizienter.
Auch bei einer anderen zentralen Initiative des main incubator geht es um Daten. Lissi steht für „Let’s initiate self-sovereign identity“ und gibt Einzelpersonen und Organisationen – und nicht etwa großen Technologieunternehmen – die volle Kontrolle über ihre personenbezogenen Daten. Dahinter steckt die Distributed-Ledger-Technologie. Es ist ein ehrgeiziges Gemeinschaftsprojekt, an dem der main incubator und die Commerzbank zusammen mit anderen europäischen Großbanken, großen deutschen Industrieunternehmen und der Bundesdruckerei mitgewirkt haben. Lissi ist sehr vielversprechend, und wir gehen davon aus, dass die Grundlagen in Zukunft auch auf Geräten angewendet werden können, die mit dem Internet der Dinge verbunden sind.
Die Unternehmenswelt wird aber nicht nur immer technischer, sondern auch nachhaltiger. Haben Sie das Gefühl, dass Innovation und Nachhaltigkeit in den größten Organisationen manchmal miteinander konkurrieren, oder ergänzen sie sich eher?
Matthias Lais: Sie ergänzen sich, ohne Frage. Nachhaltigkeit ist unser Leitmotiv, und das gilt auch für unseren Innovationsansatz. Mit der Pandemie hat sich die Dynamik in der Weltwirtschaft verändert. Es hat sich gezeigt, dass Unternehmen die Frage der Nachhaltigkeit nicht außer Acht lassen können, wenn sie den Erwartungen der Öffentlichkeit und der Regulierungsbehörden gerecht werden wollen. Speziell für Finanzinstitute wird es immer wichtiger, ESG-Prinzipien – die also ökologische und gesellschaftliche Fragen sowie Fragen zur guten Unternehmensführung betreffen – in ihren Innovationsstrategien zu verankern. Und sie müssen auch Firmenkunden dabei unterstützen können, nachhaltiger zu werden.
Der main incubator investiert nicht nur in nachhaltige Initiativen, sondern unterstützt seine Kunden auch dabei, auf ihrem Nachhaltigkeitsweg voranzukommen. So arbeiten wir beispielsweise mit einem Kunden aus dem Fondsmanagement an einem System, das ESG-Bewertungen für illiquide Assets liefert, für die es im Gegensatz zu den am Kapitalmarkt notierten Vermögenswerten derzeit keine frei zugänglichen Daten gibt.
Aktuell konzentriert sich die Branche darauf, sämtliche Nachhaltigkeitsanforderungen zu erfüllen. Wichtig ist aber, dass Nachhaltigkeit nicht nur ein Muss ist, sondern auch eine Chance für Innovation. Der globale Wandel zu mehr Nachhaltigkeit, den viele Sektoren gerade durchlaufen, wird unweigerlich tief greifende Veränderungen mit sich bringen. Dadurch entstehen aber nicht nur Herausforderungen, sondern auch ungeahnte Möglichkeiten, denn da, wo Technologie und Nachhaltigkeit aufeinandertreffen, können neue Produkte, Lösungen und Geschäftsmodelle entstehen.
Insights: Zum Selbstverständnis des main incubator scheint die enge Zusammenarbeit mit Partnern zu gehören. Verfolgen Sie denselben Ansatz auch bei Ihren Nachhaltigkeitsinitiativen?
Matthias Lais: Wir sind der festen Überzeugung, dass ein bedeutender, weitreichender Wandel am besten gefördert werden kann, wenn Unternehmen mit unterschiedlichen Perspektiven zusammenarbeiten. Deshalb haben wir im April 2020 das „Impact Festival“ ins Leben gerufen, das sich mittlerweile zur größten B2B-Nachhaltigkeitsveranstaltung in Europa entwickelt hat. Das Impact Festival ist eine Hybridkonferenz, die regelmäßig stattfinden wird. Dort trifft sich unsere Online-Community aus internationalen Unternehmen, grünen Start-ups und Investoren, um sich zu allen Aspekten des nachhaltigen Wirtschaftens auszutauschen.
Das Impact Festival ist mehr als nur eine Konferenz. Wir sehen es als eine Community-Plattform, die Unternehmen mit innovativen Start-ups und anderen Anbietern zusammenbringt, die sie auf ihrem Nachhaltigkeitsweg begleiten können. Der main incubator ist dabei der Dreh- und Angelpunkt für den Austausch von Ideen und Best Practices, denn wir schaffen ein globales Netzwerk aus den besten Innovatoren, Visionären und Problemlösern. Genau wie bei der Entwicklung von Algorithmen oder Quantencomputern gestaltet sich die Arbeit an einer nachhaltigen Zukunft leichter, wenn mehrere Unternehmen an einem Strang ziehen. Wir freuen uns darauf, diese Zukunft gemeinsam zu gestalten.